Tagung an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU)
25. – 26. November 2016
Prokrastination bezeichnet das Aufschieben oder Vermeiden von Aufgaben. Seit rund 35 Jahren ist das Phänomen des ungewollten Aufschiebens Gegenstand der akademischen Psychologie und konnte sich dort als eigenständiges Forschungsfeld etablieren (vgl. Ferrari et al., 1995), welches primär Prokrastination am Arbeitsplatz in den Blick nimmt (vgl. Milgram et
al., 1988). Begleitet wurde das wissenschaftliche Interesse von zahlreichen Veröffentlichungen aus dem Bereich der Management- und Ratgeberliteratur, welche zur Popularisierung eines Problembewusstseins von Prokrastination beigetragen haben dürften.
Der Zeitraum, in welchem die Psychologie den Begriff Prokrastination verwissenschaftlichte, fällt zusammen mit der Erosion sozialmarktwirtschaftlicher Strukturen und der Herausbildung neuer Arbeitsweisen, welche auf die Subjektivierung und Flexibilisierung von Arbeit zielen. Bislang wurde in der Prokrastinationsforschung dieser Zusammenhang nicht explizit untersucht, es dominiert eine individualisierte Perspektive. Die psychologische Literatur stützt sich zumeist auf korrelative Forschungsdesigns, welche individualpsychologisch nach disponierenden Faktoren oder situativ nach Eigenschaften der prokrastinierten Aufgabe suchen. Auch wenn dysfunktionale Prokrastination bislang nicht in den gängigen Diagnosemanualen als psychische Störung gelistet ist, sondern lediglich als Konsequenz oder Symptom etwa von ADHS oder Depressionen auftaucht, lassen sich derzeit Bestrebungen ausmachen, Prokrastination in den Katalog psychopathologischer Arbeitsstörungen aufzunehmen (vgl. z.B. Höcker et al., 2013). Die Tagung Prokrastination. Psychoanalyse und gesellschaftlicher Kontext, welche vom 25. bis zum 26. November 2016 an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) stattfinden wird, soll als Auftakt des gleichnamigen empirischen Forschungsprojektes ein Forum bieten, über Prokrastination in unterschiedlichen Kontexten zu diskutieren. Zu diesem Zweck möchten wir dazu einladen, Beiträge einzureichen, die sich dem Phänomen aus verschiedenen Perspektiven annähern. Dabei könnten beispielsweise aus Perspektive der Psychologie, der Psychoanalyse, der Wissenschafts- oder Begriffsgeschichte und der Sozialforschung wie der kritischen Gesellschaftstheorie folgende Fragestellungen verfolgt werden:
-- Inwiefern könnte das wissenschaftliche Interesse an Prokrastination mit der Umstrukturierung der Arbeitsverhältnisse („Subjektivierung von Arbeit“) seit den 1980er Jahren auszusammenhängen?
-- Welche widerstreitenden Kräfte im Subjekt könnten Prokrastination bedingen? Wie lässt sich der Aufschub von Aufgaben triebökonomisch erklären? Welcher Psychodynamik folgt der mit Prokrastination verbundene Leidensdruck?
-- In welcher Verbindung könnte Prokrastination mit zeitdiagnostischen Erwägungen wie der Theorie der beschleunigten Moderne stehen? Wie könnte sich ein verändertes Zeitempfinden auf das Prokrastinationsverhalten auswirken? Inwiefern unterscheiden sich konstruktive Formen des Aufschiebens von destruktiven?
-- Lässt sich ein Einfluss der digitalen sozialen Netzwerke ausmachen?
-- Welche Möglichkeiten bietet der Begriff Prokrastination hinsichtlich der Artikulation individuellen Leides und welche Gefahren birgt gleichzeitig eine psychopathologische Betrachtungsweise?
-- Wie lässt sich die hohe Medienresonanz des Phänomens verstehen? Welche Bedeutung haben (Online-)Selbsthilfeforen etc.?
-- Lässt sich Prokrastination in Zusammenhang mit politischen Praktiken des Widerstands bringen, wie z.B. dem Bummelstreik?
-- Das Sprechen über Prokrastination ist oftmals mit Erheiterung verbunden. Wie könnte diese humoristische Dimension gedeutet werden?
-- Welche Formen kann Prokrastinieren außerhalb von (Lohn-)Arbeitszusammenhängen annehmen? Wie lässt sich das ungeplante Aufschieben von alltäglichen Verrichtungen verstehen?
-- Welche Rolle spielt das Phänomen Prokrastination in der klinischen Praxis?
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Abstracts können bis zum 08.08.2016 eingereicht werden und sollten eine Gesamtlänge von 2.000 Zeichen nicht überschreiten.
Email: christine.kirchhoff@ipu-berlin.de
Literatur:
Ferrari, J.R., Johnson, J.L., McCown, W.G. (1995). Procrastination and Task Avoidance. Theory, Research, and Treatment. New York: Springer.
Höcker, A., Engberding, M. & Rist, F. (2013). Prokrastination ein Manual zum Behandeln pathologischen Aufschiebens. Göttingen: Hogrefe.
Milgram, N., Sroloff, B. & Rosenbaum, M. (1988). The Procrastination of Everyday Life. Journal of Research in Personality, 22, 197–212