Die GfpS unterstützt die Studentische Interesseninitiative Psychoanalyse an der Goethe-Universität in ihrem Einsatz für den Erhalt des psychoanalytischen Lehrstuhls an der Goethe-Universität Frankfurt und empfiehlt daher die Mitzeichnung der Petition der Interesseninitiative:
Wir möchten als Fachgesellschaft die internationale Bedeutung des Lehrstuhls für Psychoanalyse an der Goethe-Universität für die psychologische Forschung wie auch für die therapeutische Praxis ausdrücklich hervorheben. Auch im transdisziplinären Austausch mit den Sozial- und Kulturwissenschaften nimmt sie eine zentrale Stellung ein.
Dafür sprechen folgende Gründe:
Zunächst ist zu betonen, dass Sigmund Freuds Psychoanalyse die Grundlage der modernen Psychotherapie bildet und damit ein elementarer Bestandteil der psychologischen Grundlageforschung ist. Sie setzt trotz der Vielzahl unterschiedlicher Denkschulen und Methoden nach wie vor Standards. Aufgrund der ihr inhärenten, hermeneutisch ausgerichteten Wissenschaftstheorie und der damit einhergehenden Akzentuierung der komplexen Dialektik zwischen individuellen und gesellschaftlichen Konfliktlagen bildet sie ein wichtiges Supplement in der zunehmend positivistisch-quantitativ und individualpsychologisch ausgerichteten Forschungslandschaft. Eine verfahrensoffene Ausschreibung, wie sie derzeit geplant ist, droht die psychoanalytische Methodik weiter zu marginalisieren und das ihr inhärente Erkenntnispotenzial, das auch oder gerade in der Kombination mit etablierten Forschungsmethoden liegt, zu nivellieren.
Aus therapeutischer Perspektive ist außerdem zu betonen, dass die Psychoanalyse sowohl auf der konzeptionellen wie auch klinischen Ebene einen erheblichen Beitrag zum Verständnis (schwerer) psychischer Störungen leistet und Studierende dazu befähigt, als zukünftige Therapeut*innen komplexe Symptomatiken in ihrer Tiefendimension zu erfassen. Aufgrund des spezifischen Therapiesettings (insbesondere der nicht nur kurzfristig angelegten therapeutischen Praxis) ermöglicht die Psychoanalyse eine besondere Beziehung zwischen Analytiker*innen und Analysand*innen. Die Erforschung seelischer Probleme wird hier als gemeinsamer Prozess verstanden, indem nicht nur die Hilfe zu Selbsthilfe gefördert wird, sondern emanzipatorische Konfliktbearbeitung sowie erkenntnis- und handlungsermöglichende Praxis um Mittelpunkt stehen. Damit stellt sie eine Therapieform dar, die nicht von einem hierarchischen Patient*innen-Ärzt*innen-Verhältnis ausgeht, sondern von der Idee wechselseitiger Reflexion und Selbstkritik. Die Psychotherapieforschung hat in den letzten Jahren maßgeblich von den Erkenntnissen der Psychoanalyse profitiert und zentrale Befunde haben Eingang in andere Therapiemethoden gefunden. Ein dezidiert psychoanalytisch orientierter Lehrstuhl würde somit dazu beitragen, diese Verknüpfung unterschiedlicher Therapie- und Forschungsansätze und damit die Methodenvielfalt und den Pluralismus zu stärken.
Hervorzuheben ist außerdem, dass die Psychoanalyse nicht nur die Behandlung von psychischem Leid revolutioniert, sondern auch wichtige Impulse für die Gesellschaftskritik gesetzt hat, indem sie kulturtheoretischen Grundproblemen nachgegangen ist. Nicht zuletzt deshalb hat bereits die erste Generation der Frankfurter Schule die Psychoanalyse in transdisziplinärer Perspektive für eine kritisch ausgerichtete Sozialforschung fruchtbar gemacht.
Anspruch der frühen Frankfurter Schule war angesichts der Katastrophe von zwei Weltkriegen und dem Holocaust die »subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität« (Adorno) zu erforschen. Bis heute greift eine Vielzahl gesellschaftskritisch ausgerichteter Theorien zum Beispiel im feministischen, postkolonialen, pädagogischen oder ideologiekritischen Kontext auf psychoanalytische Denkfiguren zurück, wenn sie Fragen der Subjektivierung oder auch der Wissensproduktion im Kontext unbewusst normierender und normalisierender Macht problematisieren.
Die Psychoanalyse bildet somit eine unverzichtbare Referenzfolie der gesellschafts-theoretisch ausgerichteten Macht‑, Herrschafts- und Ideologiekritik, die an der Goethe-Universität in Verbindung mit der frühen Frankfurter Schule eine einzigartige Tradition hat. Diese Tradition zu erhalten, ist gerade angesichts aktueller gesellschaftlicher Problemlagen und multipler Krisen unverzichtbar; die Ausrichtung des Lehrstuhls an der Goethe-Universität Frankfurt ist im deutschsprachigen Raum nicht nur einmalig, sondern genießt aufgrund ihrer transdisziplinären Anschlussfähigkeit und dem an der Kritischen Theorie orientierten Forschungsumfeld auch international eine große Anerkennung.
Die psychoanalytische Forschung und Lehre werden an den Universitäten nicht nur in Deutschland zugunsten verhaltenstherapeutischer Ansätze immer stärker marginalisiert. Zentrale Erkenntnisse, die aus der psychoanalytischen Forschung abgeleitet werden können, drohen verlorenzugehen. Dagegen ist in Frankfurt einer der letzten dezidiert psychoanalytisch orientierten Lehrstühle angesiedelt, der bis heute zum internationalen Renommee der Universität beiträgt. Das Weiterbestehen dieser Traditionslinie gerade aufgrund ihrer besonderen Geschichte und Verbindung mit dem Institut für Sozialforschung ist somit auch von großem gesellschaftlichem Interesse. Die psychoanalytische Traditionslinie der Frankfurter Goethe-Universität hat ein Alleinstellungsmerkmal, das für die internationale Forschungs- und Therapielandschaft unverzichtbar ist und deshalb in der universitären Lehrlandschaft unbedingt erhalten und weiterentwickelt werden sollte.
Der Vorstand der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie, 11. Mai 2021
(Tobias Heinze, Ayline Heller, Daniel Hildebrandt, Tatiana Kai-Browne und Nadja Meisterhans)