Psychoanalytische Sozialpsychologie ist eine Sozial- und Kulturwissenschaft, die grundlegende philosophische Fragen der menschlichen Existenz reflektiert. Ihr Interesse gilt der Form und Genese der menschlichen Innenwelt im Verhältnis zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und kulturellen Mustern. Das Besondere an dieser Ausrichtung ist, dass sie die intrapsychische Dimension wie auch die gesellschaftliche Dimension in einem dialektischen Zusammenhang reflektiert und dabei einen Fokus nicht nur auf Fragen der Macht und Herrschaft legt, sondern auch die Dimension der Leiblichkeit und des Unbewussten in das Zentrum der Analyse stellt.
Als Psychologie, welche die historische Entstehung und gesellschaftliche Ausformung der menschlichen Psyche untersucht, ist sie notwendig interdisziplinär und steht gegenstandsbezogen im regen Austausch mit anderen Disziplinen, Ansätzen, Theorien und Methoden. Die psychoanalytische Sozialpsychologie ist eine empirische Wissenschaft, die mit psychoanalytischen Interpretationsmethoden, wie der Tiefenhermeneutik, auch über eigene Methoden qualitativer Sozialforschung verfügt. Sie ist zugleich eine theoretische Wissenschaft: Mit den psychoanalytischen Begriffen, die sie weiterentwickelt und diskutiert, geht es ihr um ein Verständnis der Herausbildung historisch spezifischer Existenzweisen. Dabei wird die Psyche individualgeschichtlich und sozialhistorisch als Gewordenes und Prozesshaftes verstanden.
Psychoanalytische Sozialpsychologie ist macht‑, herrschafts- und ideologiekritisch, da sie gesellschaftlich verursachtes Leiden untersucht und dabei Partei für die Menschen ergreift, auf deren Anspruch auf ein besseres Leben beharrt und sich dagegen wehrt, aus individuellem Elend eine Privatsache zu machen. Jenes Leiden gilt ihr als Auswuchs einer Gesellschaft, die nicht im Sinne der Menschen eingerichtet ist und als Zeugnis davon, dass menschliche Bedürfnisse nicht gänzlich in gesellschaftlicher Konformität aufgehen. In diesem Sinne folgt sie Adornos Beobachtung: „So sehr die Individuen Produkte des gesellschaftlichen Ganzen sind, so sehr treten sie als solche Produkte notwendig zum Ganzen in Widerspruch.“
Die psychoanalytische Sozialpsychologie hat eine lange und wechselvolle Geschichte: Sie hat ihren Ursprung in den subjekt- und kulturtheoretischen Schriften Freuds, erlebte ihre erste „Blüte“ angesichts einer kritischen Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Nationalsozialismus in der frühen Kritischen Theorie in den 1920er und 1930er Jahren. In einer zweiten Hochphase wurden diese Ansätze in den 1960er und 1970er Jahren im Gefolge des kulturellen und politischen Aufbruchs
um „1968“ und den anschließenden „Neuen Sozialen Bewegungen“ mit großer Resonanz in der Öffentlichkeit wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Nach einer Phase zwischenzeitlicher Stille um diese Ansätze zumindest im deutschsprachigen Raum werden psychoanalytische Theorien und psychoanalytisch orientierte Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften angesichts sich global manifestierender Krisenzusammenhänge wieder aufgegriffen, während sie in der
akademischen Psychologie kaum vertreten sind.
Auch wenn es keinen festgefügten Gegenstandsbereich der psychoanalytischen Sozialpsychologie gibt, haben sich doch einige klassische Forschungsfelder herausgebildet:
→ Nationalismus‑, Rassismus- und Antisemitismusforschung einschließlich der Untersuchung des Autoritarismus
→ Forschungen zu Geschlecht und Sexualität
→ Analysen von Ursachen und Folgen von (politischer) Gewalt
→ Sozialisations- und Enkulturationsforschung
→ Arbeit und Organisationsforschung
→ Kritische Zeitdiagnosen
Die Gesellschaft für Psychoanalytische Sozialpsychologie (GfpS) will dem Wiederaufleben psychoanalytisch-sozialpsychologischer Diskussionen einen organisatorischen Rahmen bieten und die Vernetzung erleichtern. Sie ist offen für alle, die ein Interesse daran haben, sich mit psychoanalytisch-sozialpsychologischer Theorie und Praxis auseinanderzusetzen.